Vom Aufstieg des Arme-Leute-Fischs
– eine kleine Kulturgeschichte des Herings
Hering ist in aller Munde, doch geredet wird kaum über die Nr. 1 in der Gunst der deutschen Fischesser. Zu anrüchig? – Naja, dieses Feature nimmt Sie mit auf Fangreisen in Nord- und Ostsee, auf Boot und Großkutter, auf einen literarischen und kulinarischen, einen musikalischen, historischen und fischereipolitischen Törn.
Stationen sind: das vorpommersche Fischerdorf Stahlbrode, Lübeck, die Königin der Hanse, Kappeln an der Schlei, Oberhausen – auch dort ißt man Hering -, Hamburg-Altona, eínst das Zentrum der Heringsíndustrie, Europas wichtigster Heringshafen, das norddänische Skagen, und Glückstadt, die Stadt mit dem ältesten Matjesfest der Republik.
Astrid Matthiae, 1998
Wie jedes Jahr – nun beißen sie wieder
Bald ist wieder Matjeszeit. Ich hab als Reporterin etliche Male zum Saisonauftakt einen Beitrag verfasst. Zunächst mit ungutem Gefühl. Nach und nach wurde mir klarer, was mich an diesen Matjesfesten alles stört. Einiges davon enthält dieser Text.
Bald beißen sie wieder – die Honoratioren von Küste und Binnenland in den neuen Matjes. Denn an so vielen Orten wie möglich lässt die holländische Matjesindustrie (in dieser Branche auch bei uns entscheidend) feierlich das erste Fass aufklopfen, seit rund 10 Jahren auch in Deutschland. Immer in der letzten Woche im Mai. Von den dicht gepackten Heringen wird dann einer herausgefingert aus der Pökellake, von der unansehnlichen Haut befreit und schier und rosa zum ersten Anbiss gereicht. Es beißen Bürgermeister, auch andere Persönlichkeiten in Amt und Würden, meist Herren im Großvateralter.
Objektiv gesehen spielen sie die Rolle des Vorkosters. Früher ein riskanter Job. Subjektiv allerdings scheinen sie sich eher als Genießer zu sehen, als Genießer feudaler Freuden. Werden doch die Matjeshändler nicht müde zu betonen, es handle sich um jungfräuliches Fleisch, das sie zum Anbiss reichen. So ihre Definition von Matjes. Unablässig wiederholt; um Assoziationen zu wecken. Das Recht der ersten Nacht gibt es nicht mehr. Aber davon träumen kann man ja mal, in Wahrnehmung des Rechts auf den ersten Biss.
Ob es aber immer die Lolitas der Meere sind, in die die Honoratioren ihre Zähne senken? Wer kann sie schon vom Heringsjüngling unterscheiden? Ist auch nicht nötig. Das Gesetz schreibt lediglich vor, Matjes dürfe sich nur der Hering nennen, dem man die bevorstehenden Elternfreuden nicht ansieht, dessen Bauch also nicht rund ist vor lauter Milch oder Rogen. Dabei kann nach dem Gesetz unser Matjeshering durchaus schon der Jugend entschwommen sein und im Jahr zuvor Elternfreuden durchlebt haben. Nach dem Laichen ist von Eiern und Rogen ja nichts mehr zu sehen – fast ein Jahr lang nicht. Und gelaicht wird in der Nordsee im Herbst. Zur Matjeszeit sind Heringe mit dickem Bauch also nicht zu erwarten. Aber einen dicken Rücken sollten sie haben, sprich einen ansehnlichen Fettgehalt. Doch da gibt es oft Probleme.
Denn den vermeintlichen Lolitaspeck fressen sich die Heringe beiderlei Geschlechts nicht auf Kommando an, sondern nur, wenn das Wasser schön warm ist. Wenn aber das Frühjahr zu kalt war, oder der Wind kaltes Wasser gebracht hat …. ? …Seit die holländische Heringsindustrie die neuen Matjes bereits in der letzten Mai-Woche feiern lässt, ist der Saisonauftakt fast immer eine Zitterpartie. Stimmt der Fettgehalt ist die bange Frage. Dabei wurden – nicht zuletzt auf Druck der Matjesindustriellen aus Holland– in Deutschland nur magere 12 % zur Vorschrift gemacht. Aber selbst die sind in vielen Jahren nur schwer zu schaffen.
Die Zeremonienmeister der neuen Matjesfeste kümmert das nicht. So wie bei Erdbeeren und Spargel verfahren sie nach dem Motto: je eher desto besser. Ganz anders da meine Geburtsstadt Glückstadt. Das verschlafene Städtchen an der Unterelbe pflegt die Erinnerung an die einstige eigene und letzte Matjesflotte der Republik schon seit mehr als 30 Jahren. Einen vorgezogenen Saisonauftakt, in den aller ersten Junitagen, erprobte man dort nur einmal – und nie wieder. Mit fettem Matjes aus dem alten Jahr und magerem aus dem neuen. Das tat sich die Königin der Niederlande nie an. Sie lässt sich ihr Matjesfässchen erst rund 4 Wochen nach der holländischen Matjesfeier überreichen. Also Ende Juni. Dann kann ihre Majestät sicher sein, dass der neue Matjes sich in ihrem Königreich auch so nennen darf. Ab 20 % Fett zwischen Haut und Gräten ist es so weit.
Neben dem Fettgehalt – egal ob 20 oder nur 12 % – muss auch die Größe noch stimmen. Haben sich zu viel von den ungebliebten Zwischengrößen in den gefangenen Schwarm gemischt, wird dieser komplett weggeschmissen. Nur einheitlich kleine oder einheitlich große Herings haben als echt holländische Matjes eine Chance. Die einen für den holländischen Markt, die andern für den deutschen. Zu viele Zwischengrößen verderben für den Fischer den Preis in der Auktion, also lässt er solche Fänge gleich sterbend auf dem Meeresgrund sacken.
Wer aber mit Fettgehalt und Körpermaßen sich als würdig erweist, bekommt den entscheidenden Schnitt verpasst. Der Matjeskandidat wird gekehlt. Zahlreiche Menschen, kommen alljährlich zur Matjessaison an der Nordspitze Dänemarks zusammen. Denn das malerische Fischerdorf Skagen wurde zu Europas wichtigstem Heringshafen. In Skagens Fischfabriken machen die Zugereisten gut 2 Monate lang immer dieselbe Handbewegung: Am Kopf, hinter dem Kiemendeckel wird das Messer reingesteckt, mit einem Teil der Eingeweide wieder herausgezogen, und der im Bauch verbleibende Rest sorgt zusammen mit Salz für richtige Reife und Aroma. Auf Holländisch wird diese Prozedur Kaaken genannt. Angeblich eine holländische Erfindung. Zumindest lassen es die dortigen Matjesfirmen alljährlich so verkünden. Mal hieß der geniale Mensch Bierfliet, mal Beukelzoon, und das entscheidende Jahr soll 1395 oder etwas später gewesen sein. Vor dieser holländischen Erfindung habe die Welt den Hering unausgenommen eingesalzen und ins Fass gepackt.
Naja, was dazu wohl die Fischfrauen auf Schonen gesagt hätten, die Leggekuonor, und vor allem die Yellekuonor. Die Yellekuonor hatten ihr Kehlmesser bekanntlich schon 200 Jahre vor diesen Herrn in der Hand, beim Heringe kehlen für die hanseatischen Kaufleute. Immer ein paar Monate im Sommer. Ganz ähnlich wie im Schonen der Neuzeit in Skagen. Dort isst man übrigens keinen Matjes, sondern Kräuterhering. Er wird erst im Spätsommer gefangen. Dann gibt es keine Probleme mit dem Fettgehalt.- Und auch nicht mit der Größe. Einfach nur das Mindestmaß, erreicht zu haben, genügt nicht.
Astrid Matthiae
LITERARISCHE ZITATE:
Wolf Erlbruch, Zehn grüne Herıinge, © i 995, Carl Hanser Verlag,
München-Wien,
Auszüge aus Günter Grass: Der Butt und Fundsachen für Nichtleser, mit
freundlicher Genehmigung des Steidl-Verlages, Göttingen und des Gustav
Kiepenheuer Bühnenvertriebs, Beriin
Auszüge aus Wolfgang Sieg Blutfleck auffe Häkeldecke [Quickborn-
Verlag Hamburg), mit freundlicher Genehmigung des Autors
MUSIKZITATE:
Hering und Makrele, (Richard Germer/Benno Strandt, © 1966,
Tempoton-Verlag Hans Sikorski, Hamburg
Hering und Makrele, Richard Germer, (1.25) LC 0366/Telefunken
3255/1, 1963. Mit freunlicher Genehmigung der eastwest records gmbh
Rollmops (Ragmop) RENTNERBAND, (2:28), ISR DE-A62-98-51680,
(Wills, Anderson and Blecher) – lntersong, ® 1975 WEA Records/Warner
Music Germany GmbH (LC: 4281), mit freundlcher Genehmigung der
WEA RECORDS. Ein Geschäftsbereich der WARNER MUSIC GERMANY
GMBH
In einen Harung… Singgruppe Condor, Orchester Jens Berthold, rrıit
freundlicher Genehmigung der BMG Ariola Miller GmbH